HIGHLIGHT

Dezember 2021

Neue Räume oder die Wiederentdeckung des Lokalen

Zwei Jahre Pandemie haben unsere Wahrnehmung von Raum verändert. Damit die Immobilienwirtschaft auf neue Bedürfnisse reagieren kann, ist die Politik gefordert, veraltete Reglemente anzupassen.

Die Anforderungen und Wünsche von Gesellschaft und Wirtschaft an den Immobilienmarkt verändern sich stetig. Weil vieles dafür spricht, dass die Pandemie dem Konzept Homeoffice nachhaltig zum Durchbruch verholfen hat, untersucht die Studie «Neue Räume» der HIG Immobilien Anlage Stiftung die damit verbundenen neuen Bedürfnisse. Denn für die Immobilienwirtschaft stellt sich die Frage, ob es an der Zeit ist, «neue Räume» zu erschliessen und welche Voraussetzungen es dafür braucht.

Am Anfang war das Homeoffice

Die Erfahrungen der letzten zwei Jahre zeigen, dass Homeoffice aus unternehmerischer Sicht sinnvoll ist und sowohl für Unternehmen wie für die Volkswirtschaft nicht zu finanziellen Nachteilen führt. Für den Einzelnen bedeutet Homeoffice einen Gewinn an Lebensqualität. Zu Hause arbeiten heisst mehr Zeit für sich haben und seine Zeit flexibler nutzen zu können. Die Pandemie hat die aus dem Industriezeitalter stammende Vorstellung von fixen Arbeitszeiten und -orten verändert und eine neue Pluralität individueller Tagesmodelle hervorgebracht. Der Einkauf wird zum Nachmittagsspaziergang durch das Quartier, der Haushalt wird als positive Abwechslung im Arbeitsalltag erlebt. Hierbei wird nicht weniger gearbeitet, sondern die Arbeit wird über den ganzen Tag verteilt. Der subjektive Gewinn an Lebenszeit wird durch die wegfallenden Pendelzeiten real vergrössert, sodass viele Berufstätige das Homeoffice als eine Form der Entschleunigung erleben.

Klimawandel, Überalterung, neue Formen des Arbeitens und Zusammenlebens sowie der technologische Wandel prägten schon vor der Pandemie den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs. Homeoffice und die damit verbundene Wiederentdeckung des Lokalen scheinen somit evolutionäre Entwicklungen zu sein, die auch nach der Pandemie bleiben dürften – zumindest als ergänzende Option für die geeigneten Berufsgruppen. Wenn aber nur ein Viertel der Arbeiten künftig zu Hause erledigt wird, wird dies die Art und Weise, wie wir heute leben, stark verändern.

Homeoffice ruft nach «neuen Räumen»

Kritisch fällt das Fazit aus, wenn wir Homeoffice im Kontext des Wohnraums betrachten, denn viele müssen sich mit improvisierten Lösungen begnügen. Sie arbeiteten am Küchentisch, im Wohnzimmer oder im Schlafzimmer. Ein grosses Defizit am Homeoffice ist die fehlende Privatsphäre und die Möglichkeit zur Abgrenzung von anderen Haushaltsmitgliedern. So berichtete eine Gymnasiallehrerin von Schülern, die den Unterricht aus dem Park oder gar vom stillen Örtchen verfolgten, da sie in der Wohnung keinen ruhigen Raum fanden. Eine Mitarbeiterin eines Pharmakonzerns war gezwungen, ihre eigene Arbeit zu unterbrechen und den Raum zu verlassen, wenn ihr Mann – ein HR-Verantwortlicher – sensible Videokonferenzen führte. Und nicht alle hatten das Privileg eines Kadermitarbeiters einer Grossbank, dem der Arbeitgeber ein Hotelzimmer in seiner Nähe finanzierte, da er in seinem Haushalt mit Kleinkindern nicht ungestört arbeiten konnte.

Homeoffice ruft nach «neuen Räumen». Zu diskutieren ist die Frage, ob das Homeoffice ein neuer eigenständiger Wohnraum, ein multifunktionaler Wohnraum oder ein Raum ausserhalb der Wohnung sein soll. Die Immobilienwirtschaft muss über Homeoffice als getrenntes Büro oder Co-Working-Space in der Siedlung nachdenken. Wo Personen mit unterschiedlichen Arbeitgebern tätig sind, gäbe es sogar einen Bedarf an Bürogebäuden in Siedlungen oder Quartieren, in denen Firmen ihren Mitarbeitenden einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen könnten.

Mehr Zimmer auf gleichem Raum

Im Zuge der Diskussion um neue Arbeitsräume wird die Raumaufteilung einer typischen Schweizer Wohnung hinterfragt. Vater und Mutter teilen sich das Elternschlafzimmer und herrschen über das Wohnzimmer, während die Kinder ihre eigenen Zimmer gestalten können? Das war einmal. Heute ist das Wohnzimmer verwaist und die Familienmitglieder sitzen jedes für sich vor ihren persönlichen Devices um zu gamen, zu chatten oder Netflix zu schauen. Der Rückzug auf sich selbst manifestiert sich auch beim Schlafzimmer. So sind getrennte Schlafzimmer heute kein Ausdruck eines Zerwürfnisses, sondern für viele ein Bedürfnis oder einfach eine Selbstverständlichkeit. Neuer Lebensmittelpunkt einer Familie ist die Küche oder das Esszimmer. Die Küche von morgen wird weniger als offene Küche, sondern als Wohnküche gesehen. Als eigenständiger, multifunktionaler Lebensraum wird in der warmen Jahreszeit auch die Loggia oder Terrasse empfunden, dies umso mehr, als der Nutzungsdruck auf öffentliche Freiräume durch Homeoffice und wachsende Bevölkerungszahlen gestiegen ist und weiterhin steigen wird. All diese Trends sprechen für mehr Zimmer auf gleichem Raum, für Raumkonzepte, die auf das Individuum ausgerichtet und somit gestaltbar und flexibel sind.

«Die Champions League oder die WM sind am ehesten noch jene Momente, wo meine drei Männer gemeinsam vor dem Fernseher sitzen», Gymnasiallehrerin

Renaissance der Quartiere

Mit der Pandemie ist die Wiederentdeckung des Lokalen verknüpft. Das eigene Quartier und seine Läden, die kleinen Parks und Spielplätze sowie die zu Fuss oder per Velo erreichbaren Naherholungsgebiete haben eine neue Bedeutung erlangt. Homeoffice, der aktuelle Velo-Boom wie auch der Wunsch vieler Schweizer und Schweizerinnen, klimaneutraler zu leben, sprechen dafür, dass es in Zukunft mehr lokale Infrastruktur braucht, denn in den meisten Schweizer Wohngebieten herrscht ein erheblicher Mangel. Es fehlt an sozialen Treffpunkten, Kaffeebars, Freizeitangeboten. Nachbarschaftliche Kinderbetreuungsmodelle wären wünschenswert, mehr sichere Spielplätze im Umfeld, neue Indoor-Begegnungs- und Spielräume im Quartier oder in der Siedlung, und auch das Feierabendbier, der Take-away oder das Fitness-Studio werden am Wohnort gebraucht. Gewerbetreibende und Dienstleistungsanbieter werden sich damit auseinandersetzen müssen, wie sie dem Trend zur Dezentralisierung folgen können – etwa durch Lösungen wie die automatenbasierten Quartierläden des Start-ups «Rüedu». Allenfalls sind die Grenzen zwischen kommerziellen Angeboten und subventionierten Lösungen fliessend und die Frage, ob ein Angebot nur für die Bewohner einer Siedlung oder für alle Anwohner zugänglich sein soll, muss diskutiert werden. Aber auch jenseits kommerzieller Angebote gilt es, «neue Räume» zu schaffen oder zu erschliessen, die von der Bewohnerschaft einer Überbauung, einer Siedlung oder eines Quartiers gemeinschaftlich genutzt werden können. Warum nicht eine Kaffeemaschine in den Treffpunkt Waschküche stellen, warum nicht auf dem Abstandsgrün angenehme Beleuchtung installieren und die Nutzungsinitiative der Bewohnerschaft überlassen …

Neue Mobilitätsflächen

Die Zukunft der Automobilität ist ein gesellschaftlich umstrittenes Thema. Losgelöst von der politischen Dimension der Diskussion ist eine Mehrheit der Bevölkerung multimobil unterwegs und die Diskussion über den Raumbedarf des mobilen Individualverkehrs und des Langsamverkehrs, namentlich von Fahrrädern, Cargo-Bikes und Elektro-Rollern, ist auch bei Siedlungen und Überbauungen zu führen. In Zukunft braucht es allenfalls statt Parkplätzen oder Einstellhallen neue Raumangebote, die flexibler und individueller genutzt werden können. Vielleicht sind Garagen-Boxen wieder ein Thema. Diese Flächen könnten dann individuell für das Auto, als Staufläche für Möbel, als Einstell- und Materialraum für das teure Mountain-Bike etc. verwendet werden. Ergänzt würde dieses Angebot mit Mobility-ähnlichen Lösungen für Cargo-Bikes, Autos und Roller, die den Bewohnern der Siedlung oder des Quartiers zur Verfügung stünden. Denkbar sind auch ergänzende Angebote wie eine Velowerkstatt oder ein Waschraum für Bikes, Stand-up-Paddels, Inline-Skates, Wanderschuhe oder Hunde.

Ein erweitertes Infrastruktur-Angebot für Siedlungen könnten auch neue Services wie Warenlogistik für Lebensmittel, Pakete oder eingeschriebene Briefe beinhalten. Allenfalls sind allgemeine Concierge Services wie Botengänge und Blumengiessen ein Anliegen der Bewohnerschaft einer Überbauung. Auf den kleinsten Nenner gebracht: Eine neue Infrastruktur und neue Services müssen sich am Verhalten und an den Bedürfnissen künftiger Bewohnerinnen und Bewohner orientieren.

Räume nach Bedarf

Beim Thema «Neue Räume» denken heute viele Menschen weniger statusorientiert als pragmatisch und ökonomisch. Gerade im Wissen, dass Wohnraum an guter Lage teuer ist, wählt man vielleicht eine kleinere Wohnung und begrüsst die Möglichkeit, bei Bedarf Zusatzräume hinzumieten zu können. Kostengünstige Stauräume, individuell und/oder gemeinsam nutzbare Aussenflächen wie Innenhöfe, Schrebergärten oder bedarfsweise hinzumietbare Ressourcen wie Büroräume, Gästezimmer, Eventlokale usw. sind von Interesse. Der Sharing-Economy-Ansatz Ressourcen zu teilen, stösst zwar auf grosse Zustimmung, wird aber wenig praktiziert. Ein prominentes Beispiel ist die Plattform sharoo.ch, die es Privaten ermöglicht, ihre Fahrzeuge zu vermieten. Selbst der etablierte Anbieter Mobility kämpft mit Wachstumsproblemen. Dennoch, das Interesse an gemeinschaftlicher Infrastruktur ist vorhanden.

«Die Qualität müsste einfach stimmen. Denn die Bereitschaft, in knapperen Wohnflächen zu wohnen, ist durchaus da, sofern auch das Angebot an Gemeinschaftsflächen zufriedenstellend ist», Philippe Koch, Professor für Stadtpolitik ZHAW

Vielleicht gilt es, diese Räume von Grund auf neu zu denken. Warum nicht eine Gästewohnung über Airbnb anbieten. Warum nicht Reservation, Zugang und Bezahlung einfach über eine App steuern. Warum nicht diese Räume professionell vermarkten und verwalten lassen, statt sie der Verantwortung von Hauswarten und Mieterschaft zu überlassen. Eine digitale Steuerung über eine Siedlungs-App zur Verwaltung der Mobilitätsangebote und mietbaren Zusatzräume wäre von grossem Nutzen, um die Ressourcen effizient und konfliktfrei managen zu können. Eine solche App könnte auch als Tool genutzt werden, um auf Einkaufsmöglichkeiten, Paketservice und das Quartierleben hinzuweisen und damit den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

Fazit

«Neue Räume» denken heisst wieder dezentraler denken. Es gilt, die Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Individualität und dem Bedürfnis nach Gemeinschaft sowie die Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatem auszubalancieren. Neue Nutzungen wie Mobilitäts-Apps und Co-Working-Spaces werden bereits erprobt, und der erste Teil der Studie «Neue Räume» hat das Bedürfnis danach erhärtet. Da Politik und Gesetzgeber Arbeiten und Wohnen aber immer noch als getrennte Bereiche betrachten, lassen die heutigen Baugesetze zu wenig Spielraum, um «neue Räume» für eine flexiblere Arbeits- und Freizeitgestaltung in den Wohnquartieren zu entwickeln. Die Immobilienwirtschaft ist gefordert, diese «neuen Räume» zu erschliessen und den Wandel zusammen mit Behörden, Investoren und Bewohnern zu gestalten. Die Pandemie hat die Akzeptanz von Veränderung gefördert. Diesen Geist gilt es zu nutzen.

«Die Baugesetze sind 10 bis 15 Jahre alt. Gerade im politischen Rahmen braucht es künftig sehr viel mehr Spielraum. Die Politik geht immer noch davon aus, dass Wohnen und Arbeit strikt getrennt sind und dies ist einfach absolut nicht mehr zeitgemäss», Roland Thoma, CEO Immobilien Anlage Stiftung HIG

Die Studie «Neue Räume» befragt Experten und Laien in einem dreistufigen Verfahren. Im ersten Schritt wurde in einer qualitativen Erhebung das gedankliche Spektrum der Möglichkeiten, Chancen und Gefahren künftiger Entwicklungen des Immobilienmarktes ausgelotet. Im Anschluss folgt eine quantitative Befragung und im letzten Schritt werden die Ergebnisse führenden Immobilienentwicklern in Einzelgesprächen vorgelegt. Zu ermitteln ist, welche Bedeutung die Immobilienentwickler den Ergebnissen der Untersuchung beimessen und wie darauf zu reagieren ist.

Die Studie «Neue Räume» wird von der Agentur für Immobilienkommunikation CreafactoryAG in Zusammenarbeit mit der mrc marketing research & consulting ag durchgeführt. Mit dieser Erhebung knüpft die Auftraggeberin – die HIG Immobilien Anlage Stiftung – methodisch und inhaltlich an eine frühere Untersuchung an, aus der 2007 die Publikation «Lebensräume», erschienen im Niggli Verlag, hervorging.